Wenn sie heute auf die damalige Zeitspanne zurückblickt, dann weiß sie, es war nur einer der
vielen Meilensteine auf dem Weg, der immer noch kein Ziel am Horizont bietet.
Es war wieder eine Zeit der Veränderung gekommen. Sie wußte es schon längst, auch wenn sie immer
noch am Alten hing und es nicht wahrhaben wollte
Doch das Alte hatte sich ihren Wünschen längst entwunden.
Sie hatten sich mal wieder getroffen an einem der vielen leeren Wochenenden.
Wie gewohnt.
Ausnahmsweise kam er zur ihr in den Norden. Meist nahm sie die fünf Stunden Zug Richtung Süden in Kauf, damit sie sich von Zeit zu Zeit sehen konnten.
Er war unruhig, scharrte längst mit den Hufen, um im Anlauf aus der Fernbeziehung zu entschwinden.
Nun war er also bei ihr und unleidig und unzufrieden.
Freitag Abend. Die langen Stunden bis zur Abfahrt am Sonntag Nachmittag fraßen sich in seine Laune.
Sie schlug ihm vor, am kommenden Tag nach Potsdam zu fahren, zum Lichterfest im Park von
Sans Souci.
Er zuckte nur mit den Schultern. "Die Karten zauberst du jetzt aus dem Hut, oder?"
"Ja", lächelte sie und zog zwei Eintrittskarten aus der Handtasche. "Ebay", antwortete sie auf
sein erstauntes Schweigen.
"Übernachtung habe ich auch besorgt!".
Sie fuhren mit dem Zug nach Potsdam. Sie liebten beide das Städtchen, den Ort, den Park, die
Vergangenheit, aus welcher Zeit auch immer.
Der August kann kühl sein. Ob sie deswegen fröstelte? Sie spazierten hinein in den großen schönen
Park .
Zwischen den vielen Menschen trafen sie immer wieder auf Figuren in barocken
Kostümen, Gaukler, Magier, stolze Fabelwesen…
Seit Stunden hatten sie nur das nötigste
miteinander geredet. Sie wollte ihm alles recht machen und ertrug das Schweigen, das sie mit der Zeit immer mehr erdrückte.
Wenn sie nach rechts gehen wollte, bog er links ab, blieb sie stehen, ging er weiter, schaute sie zu, schüttelte er den Kopf - schweigend.
Sie blickte in den Himmel, der noch nicht ganz von der Dunkelheit verborgen wurde. Mit
geschlossenen Augen hörte sie die vielen Geräusche um sie herum zu einem großen Summen anschwellen. Sie stellte sich vor, auf diesem Summen zu schweben und in diesen schönen Abendhimmel
entschwinden.
Leichtigkeit, leicht sein, leicht haben - weg!
Ob sie lange geträumt hatte? Sie stieg die Stufen einer der Treppen von Sans Souci hoch.
Plötzlich griff eine Hand nach ihr; ein weißer Handschuh auf ihrem Arm, die Finger beringt. Sie blickte hoch in das Gesicht eines androgynen Wesens; weiß geschminkt, gepuderte Perücke, rote
Lippen, weiße Strümpfe, weißes Jackett über weißem Hemd mit Spitzenjabot, den Dreispitz schief auf dem Kopf und einen Schellenbaum in der freien Hand.
Ein schiefes Lächeln und dunkle Augen ließen sie den Atem anhalten.
Das Wesen führte ihre Hand den Schellenbaum entlang, der gespickt war mit kleinen Röllchen aus
Pergament. Die dunklen Augen machten ihr klar, dass sie sich ein Pergament aussuchen sollte. Sie schloß die Augen und griff, doch ihre Hand wurde daran gehindert.
Verwundert blickte sie auf das Wesen, das sanft mit dem Kopf schüttelte.
Es griff an ihrer Stelle mit geschlossenen Augen am Schellenbaum entlang nach einem Röllchen, zog ganz langsam das Papier aus dem Baum und legte es ihr mit einer Verbeugung in
ihre Hand.
Mittlerweile hatte sich eine Menschenmenge um sie herum gebildet. Es war so still, als
würden alle den Atem anhalten. Sie warteten ohne Zweifel darauf zu hören, was auf dem Stück Pergament zu lesen war.
So zog sie das seidene rote Bändchen ganz gemächlich vom Papier, rollte es auf und las die mit
Goldtinte geschriebenen Worte:
"So wenig wie der Ochs um seine Stärke weiß, weiß der Mensch um seine
Schwächen."
Sie wagte nicht, auszuatmen, blickte auf und in die Augen des weißen Wesens vor ihr.
Und dann fing sie laut an zu lachen, sie konnte nicht aufhören. Und dabei weinte sie.
Das Wesen nahm ihre Hand an die roten Lippen und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken.
Dann drehte es sich um und verschwand.
Die Zuschauer waren längst enttäuscht weitergegangen; sie konnten weder mit dem Text etwas anfangen, noch die eigenartige Reaktion verstehen.
Sie fand ihn eine Stunde später an einem Tisch neben dem Bratwurststand. Er merkte nicht einmal, dass sie sich ihm näherte.
Kurz bevor sie ihn erreichte, fühlte sie wieder eine Hand auf ihrem Arm.
Im Augenwinkel erkannte sie das Wesen, den fast leeren Schellenbaum neben sich.
Bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie eine sanfte Stimme an ihrem Ohr.
"….erkenne deine Schwächen, dann machen sie dich stark!""
Loslassen!
Loslassen von ihrer Angst vor Einsamkeit und Alleinsein, von der Manie alles festhalten zu wollen, von der befürchteten Unsicherheit wie es weitergehen kann.
Beim Feuerwerk wußte sie, sie würde es schaffen.
- Kerstin, hast du Zeit?
- Hallo Gabi, wie geht es dir? Sag mal, weinst du? Ist was?
- Ach, du wirst es nicht glauben….
- Was? Sag an…!
- Ich bin außer mir, sprachlos!
- So klingst du aber nicht und außerdem bist du das nie.
- Stell dir vor Kerstin, Fred kommt vorhin nach Hause mit einer neuen Brille und
einer Frisur, da bleibt dir die Spucke im Hals stecken.
- Langsam, Gabi, langsam, du kriegst ja kaum Luft. Dein Mann hat eine neue Brille, na und. Braucht jeder
mal ab und zu, besonders über 50. Und dass er eine neue Frisur hat, ist bestimmt nicht von Schaden, denn so toll war seine alte Frisur auch nicht. Was ist also los mit dir?
-
Verstehst du denn nicht, ich war nicht dabei als er eine Brille kaufte!
- Und was ist daran so schlimm? Er ist doch erwachsen.
- Ach komm, Kerstin, du weißt doch, er
schleppt mich überall mit, wenn es ums einkaufen geht. Sogar für den neuen Fernseher hat er meine Meinung haben wollen. Und das vor dem Verkäufer.
- Tja, dann ist er halt allein losgezogen. Wann war das denn, wann hat er sie gekauft?
- Woher soll
ich das wissen! Er kam heute grinsend nach Hause und auf der Nase prangte eine Brille, ich sag dir, so was würdest nicht einmal DU tragen.
- Was heißt das, meine Liebe, so was würde nicht einmal ICH tragen?!
- Ach komm, Kerstin, das weißt
du doch! Du bist doch die Modischste von uns allen. Du trägst verrückte Klamotten und genauso verrückte Accessoires.
- Ach, und nun trägt dein Göttergatte auch ein verrücktes Accessoire? Gönnst du es ihm etwa
nicht?
- Es STEHT IHM NICHT!
- Schrei nicht so. Warum steht sie ihm nicht?
- Warum, warum? Es ist nicht seine gewohnte Art. Er
trägt normale Brillen, nicht so ein farbiges Ding mit Ecken und Kanten wo sie nicht unbedingt hingehören. Außerdem frage ich mich, was so ein Ding überhaupt kostet. Weißt du das
vielleicht?
- Ich weiß doch nicht, welche Brille er gekauft hat! Gucci? Oder Versace vielleicht?
- Na, das
würde ja noch fehlen. Mir macht er die Hölle heiß, weil ich mir ein paar Slippers von 150 Euros geleistet habe und er kauft sich Gucci-Brillen. Na warte!!
- Gabi, ich habe doch nur gemutmaßt. Es kann ja auch ein Aldi-Gestell sein.
- Seit wann macht Aldi
Brillen?
- Gabiiiiiiii! Das war nur so daher gesagt. Versteh doch was ich meine, es gibt ja auch vielleicht verrückte Null-Euro Brillen.
- NULL EURO? Das glaubst du nie im Leben, wenn du sie siehst.
- GABI, komm runter. Lass ihm seine Brille. Er wird schon wissen, was er tut....
- Ja, nimm ihn nur
in Schutz. Du wolltest ihn damals haben und er hat mich gewollt! Das vergesse ich nicht.
- Sag mal, fängst du schon wieder damit an? In der Zwischenzeit seid ihr dreißig Jahre verheiratet und ich 3 Mal.
Hör auf damit, Gabi, sonst werde ich langsam wirklich ärgerlich, egal wie gut wir befreundet sind. Sag mir lieber, was wirklich los ist mit dir .
- Kerstin, er hat doch auch noch eine neue Frisur. Verdammt, wo sind denn schon wieder die Taschentücher? Warte, Kerstin, ich hol welche, sonst
schnief ich die ganze Zeit ins Telefon
………………………………….
Bist du noch da?
- Ja!
- Stell dir vor, Fred war beim Frisör.
- Hab ich mir schon gedacht, nachdem du mir erzählt hast, dein Mann hätte eine neue Frisur. Wie sieht er denn
aus?
- Anders, ganz anders.
- Wie, anders?!!! Anders als was?
- Doofe Frage, anders als sonst üblich.
- OK. Und, gefällt es dir?
- Ich weiß nicht.
- Was weißt du nicht? Ob es dir gefällt? Ach Gabi, wer soll es denn sonst wissen. Komm schon, wie sieht er
aus?
- Er hat sich die Haare färben lassen.
- WAS, FRED?? Aber so viele Haare hatte er doch nicht mehr?
- Eben.
- Was, eben?!
- Er hat sich ein Toupet auf die Glatze kleben und die Resthaare dazu färben lassen.
Blond, strohblond.
- Du machst Witze!
- Mir ist NICHT nach Witzen!!! Was glaubst du, warum ich die ganze Zeit schon
heule?! Aus Jux vielleicht?!
- Hoppla, neue Brille, neue Haare, neue Farbe……war er vielleicht auch im Kosmetikstudio?
- Woher
soll ich das wissen?
- Sind seine Wimpern auch gefärbt?
- Ich habe ihm nicht auf die Augen geschaut.
Haare und Brille haben gereicht. Ich hatte davon schon genug.
- Hast du ihn darauf angesprochen?
- Na ja….
- Was heißt das, «na ja»?
- Er kam fröhlich nach Hause und fragte mich schon im Flur wie ich seine Brille finde, dreht sich um die eigene Achse und gleichzeitig zeigt er
dämlich grinsend auf seinen Kopf.
- Und dann…
- ..bin ich in Tränen ausgebrochen, nach oben gerannt und hab dich
angerufen.
- Gabi, leg jetzt sofort auf und geh zu deinem Mann und sprich mit ihm!
- Was soll ich ihm denn
sagen??
- FRAGEN! Du sollst ihn fragen warum diese Veränderung.
- Bestimmt eine andere Frau, ich
fühl das. Er wird mich verlassen wollen. Ich kenne ihn. Er war in letzter Zeit schon so eigenartig. Ich hätte mich mehr um ihn kümmern müssen, hätte mehr auf ihn achten müssen. Ach Kerstin, was
soll ich tun? In meinem Alter finde ich doch so schnell keinen anderen Mann mehr!
- Jetzt spinnst du total. Er hat bloß eine neue Brille und eine andere Frisur. Wie kommst du denn auf dieses
schmale Brett? Hey, reiß dich zusammen! Geh hin und red mit ihm!
- Du hast gut reden, du bist Trennungen gewohnt. Fred und ich aber, wir sind so lange schon zusammen, dass ich mir
das Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen kann.
- Was, so sehr liebst du deinen Mann noch?
- Lieben? Was heißt hier lieben? Was hat das damit zu
tun? Es ist halt Gewohnheit. Ja, ich bin an ihn gewöhnt. Wie soll ich das denn schaffen, wenn wir das Haus verkaufen müssen? Wie soll ich es den Kindern erklären?
- Deine Kinder sind erwachsen, du wirst Oma in wenigen Monaten. Du hast einen Job und du hast Freunde. Du würdest
es schaffen, aber mach jetzt mal kein Drama aus der Sache. Wer redet denn so schnell von Scheidung?! Rede lieber mit Fred, Gabi. Rede!
- Ein Glück, dass ich dich noch habe, ich
würde sonst zu Grunde gehen. Du bleibst mir erhalten auch nach der Scheidung, nicht wahr?
- Du nervst. Geh zu deinem Mann, frage ihn was das Ganze soll und dann ruf mich zurück.
- Kerstin,
bitte bleib dran, ich muss wissen, dass ich nicht allein bin.
Wenn er mir erzählt, er hätte eine Andere, dann will ich wissen, dass du sofort für mich da bist. Verdammt, warum wohnst du auch nicht hier in der Nähe. Bitte, bitte, bleib dran.
- In Ordnung, ich warte, aber geh jetzt!!!
……………………………
- Kerstin.
- Endlich! Was war denn nun???
- Kerstin, du wirst es nicht glauben!
- Was werde ich nicht glauben?
- Er hat mir alles erzählt.
- WAS denn?!
- Na ja, von der Frau.
- FRAU? Er hat wirklich eine andere Frau?
- Eine andere Frau? Kerstin, ich bitte dich, doch
nicht Fred. Wie kommst du denn darauf, das hätte ich nicht gedacht von dir. Willst du mir weh tun?
- Gabi, ich bitte dich! Was war denn nun????
- Diese Frau. Sie ist seit acht Wochen in der
Firma von Fred.
- Ja und?
- Ja, und sie hat ihn zu diesen Veränderungen bewegt und ihm klar gemacht, dass er ihr so
besser gefallen würde.
- Hoppla, ER würde IHR dann besser gefallen?! Wie soll ich das verstehen?
- DU musst das nicht
verstehen! Übrigens, er hatte auch einen Kosmetiktermin, OHNE gefärbte Wimpern. Soweit, seine Wimpern färben zu lassen, würde er nicht gehen. Das sagte er mir.
- Aha, soweit geht er nicht. Wie weit ist er denn gegangen…. mit dieser Dame?
-
Kerstin, was soll diese Unterstellung?
- Es war nur eine Frage, Gabi. Wohin sind sie den nun gegangen?
- Nirgendwo hin, hörst du?! Die
beiden sind nirgendwohin gegangen. Wie kommst du nur darauf?!
- War halt so ‚ne Frage. Was haben die denn nun zusammen angestellt?
- Hör auf, was soll das? Was
unterstellst du meinem Mann?! Ich hör jetzt sofort auf zu reden!!
- Kommt runter, Gabi, du wolltest mir erzählen, wer oder was den Look-Wandel von deinem Angetrauten bewirkt hat.
Dann tu das endlich!
- Na die Frau eben! Sibylle heißt sie. Sagt Fred.
- Gut, dann eben Sibylle. Was hat die denn nun mit Fred?
- Nichts, gar nichts.
- Ach Gabi, lass dir doch die Würmer nicht aus der Nase ziehen, das nervt. Sag schon…
- Sie ist als
Typberaterin eingestellt und soll Männer in gehobenen Positionen helfen, ihren Typ zu verbessern. Kundenfreundlicher, moderner, offener - wie das Unternehmen sich neuerdings auch darstellen
will.
- Gabi, sag dass das nicht wahr ist………!
- Was, du willst mir sagen, ich soll Fred nichts
glauben?!
- Nein, Aber du hast dich schon als Geschiedene gesehen…!
- Finde ich nicht nett von dir, Kerstin,
mir solche Sachen zu unterstellen. Warum sollte ich mich von meinem Mann scheiden lassen? Er hat endlich eine tolle neue Brille und mit dem flotten Haarteil und der frischen Haarfarbe sieht er um
zehn Jahre jünger aus.
- …………………
--
Kerstin? Hallo??!
- Oh, Hallo Gabi, was hast du erzählt, hat dein Mann etwa
endlich eine neue Brille? Und er war beim Frisör? Das freut mich aber……..
- Ja, nicht wahr, wurde auch endlich Zeit. Hab ich doch
schon immer gesagt.
- Schön, dass er dir gefällt,
Gabi…..
- Ja, und wie. Sag mal, Kerstin, hast du vielleicht die Adresse von diesem tollen Typberater und Kosmetiker. Weißt du, der von dem du mir letztes Mal so viel erzählt
hast, der so sanft massierte und so gut auf dich eingehen konnte….?!
- Ja, schon, Willst du auch
hin?
- Du hast doch so von ihm geschwärmt. Und gut aussehen soll er auch. Ist er Single?
- Wie bitte? Warum willst du das
wissen?
- Sag schon, ist er Single?
- Ja, ich denke schon. Aber warum interessiert dich
das?
- Frag nicht, sag!
- Ich versteh dich nicht? Ja, ich denke er war es
zumindest noch letztes Mal. Aber das ist ein halbes Jahr her. Ausserdem ist er schwul. Ich geh jetzt woanders zur Kosmetik, näher bei mir. Was ist los mit dir,
Gaby….?
- Samstag geh ich tanzen.
- Wie bitte?! Ich versteh nur
Bahnhof.
- Ich gehe tanzen! In die Forty-Plus-Disco!
- Du???
- ..und vorher geh
ich zum Typberater!
- Gaby!!!! Es reicht!!! WAS ist
los?
- Kann ich zu dir?
- Ja,
selbstverständlich.
- Gehst du mit mir aus? In eine Disco?
- Nein. Ich mag keine Discos
mehr.
- Dann gehe ich allein!
- Raus mit der Sprache, was ist
los?
- Weißt du..?
- NEIN! Ich weiß
nicht, welcher andere tolle Typberater Single ist und das ist mir, verdammt auch, sch..egal!
ICH will wissen, was mit DIR los ist!
- Weißt du einen guten
Scheidungsanwalt…?
- Machst du Witze?
- Warum
sollte ich?
- Ich verstehe gar nichts
mehr.
- Ich habe keine Taschentücher mehr.
- Zum letzten Mal – WAS IST
LOS????
- Genau das!!
- Was????!
- Alles ist los,
lose, aufgelöst.
- Wie bitte??
Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll…
- Nichts.
- Aber….
- Nichts.
- Gaby…..
- Ich werde dich später anrufen, Fred geht heut Abend nochmal aus.
- Wie bitte…. ?!
- Sybille meint, es sei gut fürs Image, wenn er sich mehr unter Leute wagt und selbstsicherer wird. Er sollte auch an seiner
Körperhaltung arbeiten. Und sie zeigt ihm, wie.
- Unter Leute?? Körperhaltung?? Geht er auch tanzen ?
- Nein, sie gehen essen.
- Sie beide??? Dumme Frage. Stimmt, er muss es ja lernen.
- Ja klar, beide.
- Etwa in den «Schwan» ?!
- Sybille will ins «Carpaccio del Sole».
- Neu ?!
- Ja, ist Sterne-Italiener und in. Schwan sei out, zu altbacken.
Sagt Fred. Hat er von Sybille.
- Oh…out und in. Arbeitsessen sozusagen. Unterm Stern. Tja dann...
- Eben gut fürs Image. Wenn du mich jetzt fragst, wessen Image, dann schreie ich!!
- Ruhig.
- Ich bin kein Pferd !
- Reg dich ab !
- Ich bin nicht aufgeregt.
- Was denn ?!
- Ich weiß es nicht.
- Willst du reden ?
- Reden wir nicht?, Was haben wir denn den ganze Zeit getan??! Ach ja, ich habe geschrien. Sagtest du.
- Ok. Stimmt. Geredet. Doch, schon.
Aber ich meine, so richtig..... du weißt schon.
- Reden wir jetzt falsch ?
- Das wird mir jetzt doch zu blöd. Nun ist gut, ich will endlich wissen, was los ist!
- Sie fahren nächste Woche zusammen nach Bayreuth.
Ins Fortbildungslager, wie Fred das nennt.
- Wie nennst du es denn ?
- Puff.
- Puff?!
- Puff. Und bis vor kurzem hat Fred diese Einrichtung auch so tituliert.
- Er wird seine Gründe dafür gehabt haben.
- Hatte er. Er war schon mal da.
- Na ja, vielleicht konnte er sich der Sache nicht entziehen.
- Sybille hat es vorgeschlagen.
- Das hat er dir alles erzählt, vorhin ?
- Ja, den Rest kann ich mir denken.
- Und was denkst du dir ?
- Hälst du mich auch für blöd ?
- Nein.
- Dann hättest du dir die Frage sparen können, es liegt doch auf der Hand, oder ?!
- Wessen Hand? Ist schon gut, reg dich nicht auf.
Ehrlich, ich kenne dich nicht mehr wieder.
- Ich mich auch nicht.
- Und nun ?
- Keine Ahnung.
- Komm, das ist bestimmt nicht so wie du dir das denkst.
- Noch schlimmer, meinst du ?,
- Quatsch !
- Dann laß mich doch in Ruhe.
- Willst du das ?
- ..................... Sie holt ihn nachher hier ab. Sie will mich kennenlernen.
- Das Ganze ist doch grotesk.
- Fred meinte, es wäre nicht schlecht, wenn wir uns kennenlernen. Wir sollen in Zukunft öfter mit ihr zusammen sein, das täte uns bestimmt gut.
Meint Fred.
- Meint Sybille das auch? Sag mal, steigert sich deine Geschichte noch?
- Wenn sie klingelt, garantier ich für nichts !
- Gabi????
Verdammt, ich komme! In zwei Stunden bin ich bei dir. Und bitte, versprich mir, geh nicht an die Tür, laß es klingeln! Oder besser noch, stell die Klingel ab!! Ich klopfe ans
Küchenfenster.
- Dann lauf mir nicht ins Messer !
- Ehrlich, Gaby, das ist doch besser als jeder Fernsehfilm, was du da alles eben erzählt hast.
- Soll ich mich jetzt darüber freuen ?
- Ich schreibe es auf und dann verkaufen wir die Story an irgendeinen Sender.
- Du willst mir wohl wirklich ins Messer laufen, oder ?!
- Nein, aber denk mal drüber nach.
- Ich hole jetzt den Staubsauger.
- Was willst du denn damit?
- Testen, wie fest das Teil auf Freds Kopf sitzt.
- Warte damit, bis ich da bin !!
- Dann setzt dich ins Auto und spute dich.
- In zwei Stunden – ich fliegeee!.
"Gottwald, was machst du da? Hör auf, bist du blind, die Katze mag das nicht. Du sollst sie nicht festhalten. Lass das Vieh los, du weißt nicht wo
es herkommt. Ich verabscheue Katzen! Hörst du mich? Gottwald, willst du mich ärgern?"
Die Katze springt Gottwald aus seinen umklammernden Armen. Traurig blickt er ihr nach. Sie fühlte sich so weich und warm an.
Er schaut auf seine Frau. Er sieht ihre nach unten verzogenen Mundwinkel.
"Wie viele Jahre noch?" schießt es ihm durch den Kopf. Dann erschrickt er vor sich selbst und seinem eigenständigen Innern mit den irritierenden
Überlegungen. Aufhören! Er muss zugeben, dieser Gedanke legte sich öfters über seine Stimmung, wenn sie so war wie eben - erdrückend, hilflos, resignierend.
Es lohnt sich nicht mehr, war der nächstfolgende Gedanke, wenn er sie wieder wahrnahm, diese Frau mit ihren vollen Lippen, die heute nur noch
einen gierigen Mund bilden. Damals erregten sie ihn, diese Lippen. Sie versprachen eine leidenschaftliche Frau. Das erklärten ihm seine Kumpel, die auch hinter ihr her waren und sie sie
umschwärmten. Doch sie wollte ihn; er machte das Rennen. So fühlte er, als sie das erste Mal so etwas Ähnliches wie Sex hatten.
Geduldig versuchte er zu begreifen, dass dieses aufregende Mädchen nicht die Leidenschaft entwickelt hatte, die ihre Lippen angeblich
versprachen. Dass Lippen ihr Versprechen nicht halten würden, lernte er schnell, dachte er in seinen wütenden und sarkastischen Phasen, wenn er sich selbst auslachte.
Er redet schon seit Jahren mit sich selbst. Nur in Gedanken, denn seiner Frau wollte er sich nicht mehr mitteilen. Er fand, das war vergeudete
Zeit. Es würde nichts ändern und wer mit sich selbst klar kommt, kommt am besten klar.
Er benötigt nur noch seine Gedanken. Die sind ihm treu und meist zuverlässig. Zuverlässiger als die Gefühle, die ihn manchmal
heimsuchen.
Seine Arme jucken. Er hatte seine Katzenallergie vergessen. Doch vor einigen Wochen tauchte diese Katze auf der Terrasse auf und jedes Mal wenn
er heraustrat, drückte sie sich gegen seine Beine und fing an zu schnurren. Sie blieb immer nur so lange, bis er wieder ins Haus trat, und dann verschwand sie.
Anfangs stieß er sie beiseite, doch sie ließ sich nicht wegschicken. Dann stellte er ihr zaghaft Milch hin, die sie bereitwillig und genüsslich
trank. Er fing an, sich an sie zu gewöhnen.
Vorhin dann, es war zum ersten Mal, griff er etwas unbeholfen nach dem Tier.
Seine große Hand legte sich unter ihren warmen weichen Bauch und er hob sie hoch. Ein bisschen wehrte sich die Katze, doch dann ließ sie es
geschehen und schaute ihn mit ihren hellen und klugen Augen an.
Ein eigenartiger Blick, so offen und fast fragend. So viel Leben, dachte er. Diese Wärme, die zärtliche Nähe eines anderen Lebewesens, wann
hatte er diese Intensität das letzte Mal gefühlt?
Unbewusst hatte er sich Richtung Küche bewegt und nahm die Katze mit ins Haus. Er war ganz auf seine Gedanken und die Nähe der Katze an seinem
Brustkorb fixiert, dass er seine Frau erst wahrnahm, als sie anfing zu zetern. Keine freundliche Bitte, einfach ein Befehl - so schrie sie ihm die Worte entgegen.
Als sie schwieg, wand sich die Katze aus seinen Armen und trippelte mit erhobenem Schwanz gemächlich zur Terrassentür, drehte sich nochmals kurz
um, dazu ein weiser Blick in Gottwalds Augen und sie durchquerte die weite Rasenfläche um zwischen den Büschen zu verschwinden.
Von einem Augenblick zum andern fühlte Gottwald eine unaussprechliche Leere in sich. Er hätte gerne geweint, doch das tat er seit Jahrzehnten
nicht. Ihm war plötzlich ganz kalt an diesem sonnigen Frühlingstag.
Aufhören, einfach aufhören, schoss es weiter durch seine Gehirngänge. Womit, fragte er mit seinem gewohnten Sarkasmus. Mit dem Leben, mit dem
Denken, mit dem Sehnen, mit seiner Frau?
Nichts von all dem wäre leicht, insbesondere Letzteres. Er hätte keine Kraft sie zu verlassen.
Ersteres wäre das Einfachste, das wusste er: einfach gehen, für immer. Er erschrak.
Wie konnte es sein, dass ein Mann von 61 Jahren so weit fällt, dass er nicht mehr will? Was hatte er falsch gemacht?
Liegt es denn nur an dieser Frau, mit der er seit 33 Jahren verheiratet ist?
Er war ehrlich genug sich einzugestehen, dass das nicht der alleinige Grund war. Damals war sie wirklich attraktiv, nicht dumm und auf eine
gewisse Art sogar witzig. Und so lebendig.
Warum wollte sie ihn? Warum wartete sie auf ihn bis er zu Ende studiert hatte und wieder in den Heimatort zurückkam, wo er als Deutsch- und
Erdkundelehrer am örtlichen Gymnasium blieb, bis er vor 3 Jahren in Vorruhestand ging, nach dem Herzinfarkt?
Er fühlte diese unsagbare Trauer in sich, die ihn nun schon seit einigen Jahren begleitete. Sie hatten keine Kinder, es hatte nie geklappt. Das
paßte ihm sogar. Bestimmend weigerte er sich, medizinische Hilfe zu suchen, trotz des jahrelangen Drängens seiner Frau. Er hatte täglich Kinder um sich, er brauchte keine eigenen. Sie
arbeitete in einer Anwaltskanzlei und vermisste Kinder in ihrem Leben.
Irgendwann hörte sie auf über das Thema zu reden. Ab dann breiteten sich langsam Distanz und Kälte zwischen ihnen aus. Sie nörgelte immer öfter
und er schwieg immer länger.
Bei einem der unvermeidbaren Streitgespräche schrie er sie an: "Verdammt, warum bloß hast du mich damals geheiratet?!"
Da grinste sie auf die ihr eigene bösartige Weise und sagte fast genüsslich:
"Wusstest du nicht, dass deine Großtante eine unserer Klientinnen war? Ich habe ihr Testament ins Reine getippt. Ich wusste lange Jahre vor dir,
was du einmalmal erben wirst!"
Sie grinste kalt und spöttisch, drehte sie sich um und ging in die Küche.
Er verstand den Sinn ihrer Worte sofort und weigerte sich dennoch, ihn zu begreifen.
Er erinnerte sich an das Erstaunen der ganzen Neffen und Nichten, als er, Gottwald, der alleinige Erbe der Großtante war. Plötzlich hatte er
keine Verwandten mehr, aber dafür war er mit einem Schlag sehr wohlhabend.
Auf Anraten seiner Frau verkaufte er die geerbten Immobilien und sie ließen sich, ganz nach den Vorstellungen seiner Frau, auf einem riesigen
Grundstück eine Villa bauen, eingegrenzt mit ewiggrünen Gewächsen, die von einem Gartenarchitekten regelmäßig gehegte und gepflegt wurden. Alles zusammen aufwändig und kostenintensiv. Es
schien perfekt.
Wieder diese Leere, diese Traurigkeit. Er stand draußen auf dem Rasen, blickte über das Grün seines Anwesens und fragte sich, was der Sinn von
Allem war, was und wo er ihn noch finden sollte. Wer war er noch? Und wer wollte er sein? Und wozu? Er fand keine Antwort. Fragte sie sich das nie?
In Gedanken sah er seine Frau vor sich. Sicher, sie hatte sich verändert. Sie war schwerer geworden, voller, runder, älter eben. Das war nicht
schlimm, es stand ihr nicht schlecht mit Ende Fünfzig.
War es irgendwann mal Liebe? Hatten sie irgendwann einmal etwas Gemeinsames? Nur wenig, glaubte er zugeben zu müssen. Er wollte sie, weil damals
so viele andere Typen sie wollten. Er war jung und einfach nur stolz gewesen, sie für sich gewonnen zu haben. So fragte er sich nie, wer sie wirklich war. Im Grunde genommen wußte er das bis
heute immer noch nicht.
Das einzige woran er sich erinnerte war, dass sie seinen Musikgeschmack nicht teilte. Sie liebte Discos, er klassische Konzerte. Sie rauchte
Shit und er gar nicht. Er trug gebügelte Hosen und sie ultrakurze Miniröcke. Irgendwann trug sie keine Miniröcke mehr sondern Jeans und flache Schuhe. Er blieb seinen Bundfaltenhosen treu und
wechselte irgendwann von den weißen Hemden zu farbigen und das war's.
Wie konnte er glauben sie zu lieben, wenn er sie nicht wirklich gesehen hat, damals und das bis heute nicht?
"Was hat das Leben mit uns gemacht?", fragte er fast ungehalten in den Raum hinein. Was hatte es ihnen angetan? Was hatten sie dem Leben
angetan?
Und er, was hatte er sich beiden angetan?
Sie hatte ihn wegen des zu erbenden Geldes geheiratet, das war ihm klar. Und er, weil er sie unbedingt besitzen wollte.
Und doch gab eine kurze Zeit am Anfang ihrer Ehe, in der sie sich ihre Träume und Hoffnungen erzählten, sich zaghaft annäherten und füreinander
interessierten. Warum hörte das auf? Wann nahmen sie sich nicht mehr wahr?
Er schlief seit Jahren im Gästezimmer und sie reiste regelmäßig zu ihren Schwestern oder Verwandten. Er hatte manchmal eine Affäre und ansonsten
seine Arbeit. Und sie?
Warum hat er sich bislang nie gefragt, wie seine Frau ohne Nähe und Zärtlichkeit auskam?
Vielleicht hatte er in seinem beruflichen Leben nicht versagt, doch eindeutig in seiner Ehe.
Er hatte sich nie um ihre Bedürfnisse geschert und auch selten seine eigenen hinterfragt.
Um des Gewinnens Willen hat er sie gewollt; das war damals sein Motor.
Und ihr Motor war seine ausstehende Erbschaft. Das trug er ihr all die Jahre nach, wie schäbig. Dabei waren sie sich gleich; er hatte ihr nichts
vorzuwerfen.
Es hatte auch keinen Sinn aufzuwiegen, wer sich mehr Mühe gab in den Jahren ihrer Ehe, wenn überhaupt. Jeder hatte es auf seine eigene nutzlose
Art getan und versagt.
Ihre ganze Ehe, diese vielen Jahre - gar keine Früchte. Vergebene Lebenszeit?
Keine Gemeinsamkeiten, keine Kinder, keine Liebe, keine Freude, wenig Freunde, Achtungslosigkeit, Verbitterung, nur Verletzungen, und eine alles
umfassende Einsamkeit.
Sie blieben trotzdem zusammen. Was verband sie also? Dieses Nichts?
Er erinnert sich wieder daran, welche Gefühle die Berührung der Katze in seinen Armen bei ihm ausgelöste. Ein kurzer Augenblick der Hoffnung,
Nähe zuzulassen, wieder aufzuwachen aus der Lethargie und der Kälte.
Und wenn es das ist, was sie verbindet? Ein letzter Rest von Hoffnung, von Sehnsucht nach Undenkbarem, Unsagbarem? Geboren aus der gemeinsamen
Zeit, aus nicht gewollten und doch gelebten Verletzungen, aus Vorwürfen die oft genug und unbewusst auch Vorwürfe an sich selbst waren, aus Enttäuschungen die man dem anderen und auch sich
selbst bereitete.
Welche Ähnlichkeit - der Spiegel des eigenen Selbst.
Warum haben sie das nie erkannt? Warum hatten sie nicht daraus gelernt?
War es zu spät?
Eine Katze in den Armen halten, weil diese es so durchgesetzt, und er es zugelassen hatte - trotz der Katzenallergie.........?
Eine Frau umarmen, die zu berühren man sich jahrelang weigerte; es tun, trotz der Distanz die zwischen ihnen scheinbar
war..............?
Und wenn er es einfach wagte?
Was, wenn er es einfach versuchte.........?